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Wie körperliche Geschlechter jenseits von Mann/Frau tabuisiert werden

Intergeschlechtlichkeit ist ähnlich häufig wie Rothaarigkeit.1 Trotzdem denken viele Menschen, sie kennen keine einzige inter* Person. Wie kommt das?

Vielleicht haben Sie kürzlich zum ersten Mal davon gehört, dass Menschen nicht nur einen „typisch“ männlichen oder weiblichen, sondern auch einen intergeschlechtlichen Körper haben können. Dass viele das nicht wissen, ist kein Zufall, sondern Folge einer Unsichtbarmachung auf mehreren Ebenen:

Normierende Medizin

Die medizinische „Korrektur“ der Äußerungsformen geschlechtlicher Vielfalt ist die wohl extremste Form, diese unsichtbar zu machen: So war es zum Beispiel auch in Deutschland lange Praxis, eine „zu große“ Klitoris operativ zu verkürzen mit dem Ziel, die intergeschlechtliche Verfassung eines Körpers zu verbergen – obwohl medizinisch nicht notwendige Operationen gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit verstoßen. In den 1970er-Jahren definierte die Bundesärztekammer bestimmte Formen von Intergeschlechtlichkeit als zulässigen Grund für einen legalen Schwangerschaftsabbruch.2 Mit den technischen Möglichkeiten der heutigen Pränataldiagnostik besteht das Risiko der gezielten Abtreibung aufgrund von Intergeschlechtlichkeit weiterhin.3

Geschlecht im Recht

Noch im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 gab es einen eigenen Paragraphen zur Regelung des Personenstandes von „Zwittern“.4 Seit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur „Dritten Option“ 2017 folgte deutsches Recht dagegen der Vorstellung, alle Menschen seien entweder Mann oder Frau. Dieses Ausblenden geschlechtlicher Vielfalt auf der formalen Ebene setzt sich im Alltag in Kontaktformularen, Statistiken, Klassenbüchern und vielem mehr fort.

Sprache und Sprachlosigkeit

„Sehr geehrte Damen und Herren“, „Jungen- und Mädchenkleidung“, „Bist du ein Er oder eine Sie?“ – ständig werden wir daran erinnert, dass sich alle Menschen in eine von zwei möglichen Kategorien einteilen lassen sollen.

Dass Körper, die jenseits dieser strikten Einteilung liegen, wie ein „Irrtum“ erscheinen – und nicht wie eine Variation, die die Natur eben hervorbringt –, dafür sorgt auch der leichtfertige Gebrauch von Begriffen wie „Entwicklungsstörung“ oder „Gendefekt“. Von „uneindeutigem“ Geschlecht zu reden, mag zunächst harmloser wirken; aber auch diese Formulierung spricht denjenigen, die körperlich nicht (nur) männlich oder (nur) weiblich sind, ab, ein eigenes und gleichwertiges Geschlecht zu haben.

Verschweigen und Beschämen

Eltern intergeschlechtlicher Kinder wurde lange nahegelegt, ihren Kindern das Wissen über deren körperliches Geschlecht vorzuenthalten. Wenn sie es doch herausfanden, mahnten Ärzt*innen oder Eltern häufig, anderen nicht davon zu erzählen. Solange sich intergeschlechtliche Menschen nicht zeigen dürfen oder können, bleiben andere (und sie selbst) in dem Glauben, es gebe (außer den ihren) nur normmännliche und normweibliche Körper.

Übrigens: Haltungen der Abwehr und Verdrängung gegenüber der Vielfältigkeit körperlichen Geschlechts treffen nicht nur intergeschlechtliche Menschen. Auch andere stehen unter dem Druck, „geschlechtsuntypische“ Merkmale zu verbergen oder zu entfernen – etwa eine „weiblich“ aussehende Brust bei Männern oder Haare am Bauch oder auf den Wangen bei Frauen.

1 United Nations Human Rights Ofiice: UN Free & Equal (o. D.): "Fact Sheet Intersex". Zuletzt abgerufen am 02.07.2019 von https://www.unfe.org/wp-content/uploads/2017/05/UNFE-Intersex.pdf.

2 Klöppel, Ulrike (2010): XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. Bielefeld: Transcript Verlag. S. 469f. 

3 Feuerlein, Monika (2015): "Die gefährlichen Intersex-Gentests". In: Tagesspiegel Online, 01.06.2015. Zuletzt abgerufen am 19.02.2019 von https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/im-raster-der-zweigeschlechtlichkeit-die-gefaehrlichen-intersex-gentests/11853150.html.

4 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (01.06.1794), Erster Theil. Zuletzt abgerufen am 15.02.2019 von https://opinioiuris.de/quelle/1622.