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Paragraph 175 – Bestrafung sexueller Handlungen zwischen Männern

Mehr als 20 Jahre hielt die Bundesrepublik an den Fassungen der Paragraphen 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. 1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform. Seitdem waren sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar, während ansonsten die Schutzaltersgrenze bei 14 Jahren lag. Erst im Jahr 1994 wurde der Paragraph 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben. 

Der Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches erklärte sexuellen Kontakt zwischen Männern zu einer kriminellen Handlung. Ursprünglich stammt der Paragraph aus dem Kaiserreich, genauer aus dem Jahr 1872. Bis 1918 wurden circa 10.000 Männer auf dieser Grundlage verurteilt.1 In der Weimarer Republik forderten verschiedene gesellschaftliche Gruppen und politische Parteien, den Paragraphen entweder abzuschaffen oder zu verschärfen, ohne dass es zu einer Reform kam.

1935 verschärften die Nazis den § 175 erheblich – nun war nicht einmal mehr die gegenseitige körperliche Berührung notwendig, um den Straftatbestand zu erfüllen. Blicke und eine „Verletzung des allgemeinen Schamgefühls“ reichten aus, um jemanden anzuzeigen. Auch das Strafmaß wurde erhöht. Rund 50.000 Männer wurden zwischen 1935 und 1945 nach § 175 verurteilt. Bis zu 15.000 von ihnen wurden in Konzentrationslager deportiert, wo sie den sogenannten „Rosa Winkel“ als Kennzeichen tragen mussten. Tausende von ihnen wurden ermordet.2

„Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende“3

Mit diesem Satz wies der schwule, jüdische Religionshistoriker Hans Joachim Schoeps 1963 darauf hin, dass die Bundesrepublik den § 175 im Jahr 1949 unverändert übernommen hatte. Männer, die vor 1945 aufgrund homosexueller Handlungen verfolgt worden waren, wurden zudem nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Zwischen 1950 und 1969 wurden etwa 50.000 Männer nach § 175 verurteilt,4 ungefähr doppelt so viele angeklagt.5 Straffrei wurden einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern über 21 Jahre erst, als 1969 das Strafgesetzbuch reformiert wurde. 

In der DDR galt ab 1950 der § 175 in seiner abgeschwächten Form aus der Zeit der Weimarer Republik, bis er 1968 komplett gestrichen wurde. Trotzdem gab es bis 1989 gemäß dem § 151 des Strafgesetzbuchs der DDR unterschiedliche gesetzliche Altersgrenzen für homo- und heterosexuelle Handlungen. Erstmals wurden hier auch erwachsene Frauen in die Strafbarkeit einbezogen. 

Der Bundestag hatte nach der Wiedervereinigung 1990 im Zuge der Rechtsangleichung zu entscheiden, ob Paragraf 175 auf die östlichen Bundesländer ausgeweitet werden sollte. 1994, mit Ablauf der Frist für die Angleichung, ließ der Bundestag den Paragrafen dann einfach wegfallen.

Welche gesellschaftlichen Konsequenzen hatte der § 175?

Es war nicht nur die Furcht vor individuellen Verurteilungen und Strafen, die homosexuellen Männern in der Nachkriegszeit das Leben schwer machte; der Staat ging auch gegen die schwule und bisexuelle Community vor. So beobachtete die Polizei beispielsweise Lokale und Treffpunkte; Zeitschriften, die Homosexualität thematisierten, wurden zensiert. 

In diesem unterdrückenden gesellschaftlichen Klima sahen sich schwule und bisexuelle Männer meist dazu gezwungen, ihre sexuelle Orientierung geheim zu halten. Viele versuchten heterosexuell zu leben oder begingen aufgrund sozialen Drucks und Ächtung Selbstmord. Einmal nach § 175 verurteilt, lebten die betroffenen Männer als Vorbestrafte. Negative Folgen in Ausbildung und Berufsleben reichten von Ausschlüssen vom Studium bis zu Entlassung und Berufsverbot. 

Rehabilitierung und Entschädigung 

Der Bundestag verabschiedete 2017 ein Gesetz, das vorsieht, nach 1945 auf Grundlage von § 175 sowie § 151 des Strafgesetzbuches der DDR gefällte Urteile aufzuheben und die Opfer zu entschädigen. Als Kollektiventschädigung erhält die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld eine jährliche Förderung, um unter anderem die Schicksale verfolgter queerer Menschen aufzuarbeiten und zu dokumentieren.6

Einzelpersonen beziehungsweise deren nächste Verwandte können die Rehabilitierung (sprich die Aufhebung der Urteile) beantragen. Grundsätzlich ist dafür die Staatsanwaltschaft in dem Bezirk zuständig, in dem das Urteil gesprochen wurde – aber auch jede andere Staatsanwaltschaft nimmt Anträge schriftlich oder mündlich entgegen.

Wird diesem Antrag stattgegeben, hat die Einzelperson Anspruch auf Entschädigungszahlungen in Höhe von 3000 Euro pro Urteil und 1500 Euro pro angefangenem Jahr in Haft. Diejenigen, die in Untersuchungshaft saßen, aber nicht verurteilt wurden, haben keinen Anspruch auf Entschädigung. 

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Bundesamts für Justiz.

1 Bundeszentrale für politische Bildung (2014): "1994: Homosexualität nicht mehr strafbar". In: Bundeszentrale für politische Bildung, 07.03.2014. Zuletzt abgerufen am 03.12.2018 von http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/180263/24-jahre-homosexualitaet-straffrei.

2 Ebd.

3 Hans-Joachim Schoeps (1963): "Überlegungen zum Problem der Homosexualität". In: Bianchi, Hermanus u.a. (Hrsg.): Der homosexuelle Nächste. Ein Symposium. Hamburg: Furche-Verlag. S. 74-114, hier: S. 86.

4 Anetzberger, Martin (2014): "Wenn Unrecht Recht ist". In: Süddeutsche Zeitung, 12.11.2014.Zuletzt abgerufen am 03.12.2018 von www.sueddeutsche.de/politik/diskriminierung-homosexueller-wenn-unrecht-recht-ist-1.1614780.

Kersten-Bittner, Tobias (2016): "Die Frage der Rehabilitierung und Entschädigung der zwischen 1949 und 1969 in der Bundesrepublik Deutschland nach § 175 StGB verurteilten homosexuellen Männer – eine gesellschaftliche und rechtliche Betrachtung" (Masterarbeit). Zuletzt abgerufen am 03.12.2018 von www.lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/Recht4/Masterarbeit_Tobias_Kersten-Bittner.pdf.

Warnecke, Tilmann (2017): "Kabinett beschließt die Rehabilitierung verurteilter Homosexueller". In: Tagesspiegel, 22.03.2017.Zuletzt abgerufen am 03.12.2018 von www.tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/opfer-des-paragrafen-175-kabinett-beschliesst-rehabilitierung-verurteilter-homosexueller/19553036.html.

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