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Anti-Genderismus: Gender unter Ideologieverdacht

Dass Geschlecht, Sexualität und Begehren auf vielfältige Weise gelebt werden, wird gesellschaftlich und politisch immer mehr anerkannt. Manche sehen hier jedoch eine gefährliche Gender-Ideologie am Werk. Wer hat Angst vorm Genderwahn?

Der Anti-Genderismus macht gegen die Gender Studies, Gender Mainstreaming und die Sichtbarkeit von LSBTIQ* in der Gesellschaft Stimmung. Sie seien Ausdruck einer – wie sie es nennen – totalitären „Gender-Ideologie“, deren Ziel es sei, ein Diktat der „politischen Korrektheit“ zu errichten. Es wird davor gewarnt, dass Kinder und Jugendliche angeblich durch den „Genderwahn“ in ihrer geschlechtlichen und sexuellen Entwicklung verwirrt, cis- und endogeschlechtliche Männer und Frauen zu geschlechtslosen Wesen umerzogen und Familien zerstört werden sollen. Wer sich öffentlich für die Anerkennung vielfältiger geschlechtlicher und sexueller Lebensentwürfe einsetzt, wird als Mitglied der „Gender-Industrie“ diffamiert. 

Aber was versteht man eigentlich unter Gender? Und widerspricht das wirklich dem gesunden Menschenverstand, wie manche behaupten?

Gender: Ein Konzept aus dem Leben 

„Gender“ ist ein Begriff aus dem Englischen, der im deutschsprachigen Raum zunächst in der Wissenschaftssprache genutzt wurde. Dort bezeichnet Gender laut Duden die „Geschlechtsidentität des Menschen als soziale Kategorie (zum Beispiel im Hinblick auf seine Selbstwahrnehmung, sein Selbstwertgefühl oder sein Rollenverhalten)“.1
Wie Menschen Geschlecht mit Leben füllen, ist für viele wissenschaftliche Fachrichtungen interessant. Allerdings hat die Wissenschaft sich lange vor allem für cis- und endogeschlechtliche Männer interessiert. Angestoßen durch die zweite Frauenbewegung forderten Forschende ein, dass der heterosexuelle, cis- und endogeschlechtliche Mann nicht mehr für den Menschen per se steht, sondern auch die Perspektiven von Frauen und lsbtiq* Menschen relevant sind.

Die Geschlechterforschung – englisch Gender Studies – ist in diesem Zusammenhang entstanden. Sie setzt sich aus der Perspektive verschiedener Disziplinen damit auseinander, welche Rolle Geschlecht in der Gesellschaft spielt, wie Geschlechterverhältnisse kulturell verhandelt werden und wie sich die Geschlechterordnung historisch verändert.

Mit dem Konzept „Gender“ wird aber nicht nur in der Wissenschaft gearbeitet, sondern auch in Bildung, Politik und Verwaltung. Ein Beispiel dafür ist das Gender Mainstreaming. Sein Ziel ist es, Ungleichbehandlung abzubauen. Indem Chancengleichheit in allen Bereichen der Politik und Verwaltung zum Thema gemacht wird, soll es die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen verbessern. 

Nehmen wir beispielsweise die Verkehrsplanung: Wer viele Stunden pro Woche damit verbringt, Kinder zur Schule und zum Sport zu bringen, Einkäufe zu erledigen und Angehörige zu besuchen, hat im Alltag andere Verkehrswege zu bewältigen als eine Person mit Vollzeitjob.2 Gender Mainstreaming heißt, unterschiedliche Bedürfnisse zu berücksichtigen, um zum Beispiel öffentliche Infrastruktur gerechter zu gestalten. Da unterschiedliche Lebenssituationen nicht nur durch das Geschlecht geprägt werden, sondern zum Beispiel auch durch Alter, kulturellen und religiösen Hintergrund oder die Betroffenheit von körperlichen Einschränkungen, wurde das Konzept zu Diversity Mainstreaming weiterentwickelt. 

Geschlecht aus Sicht des Anti-Genderismus

Anti-Gender-Initiativen behaupten, hinter dem Gender Mainstreaming stünde der Versuch, eine – wie sie es nennen – „feministische Diktatur“ zu errichten, die auf die Abschaffung von Geschlecht ziele. Wie kommt es, dass Gender aus ihrer Sicht etwas ist, das Geschlecht bedroht? Das, was Gender-Kritiker*innen meinen, wenn sie von Geschlecht sprechen, unterscheidet sich radikal vom oben erläuterten Gender-Begriff. Gender-Kritiker*innen behaupten, Geschlecht, Sexualität und Fortpflanzung seien biologische Tatsachen, die nicht weiter erklärungsbedürftig seien. 

Diese Vorstellung fällt meist zusammen mit einem Glauben an eine göttliche Schöpfungsgeschichte und einer daraus ableitbaren „natürlichen“ Geschlechterordnung.3 Dieser durch die monotheistischen Kirchen geprägten Weltsicht folgend seien die Regeln des Zusammenlebens in der Natur des Menschen festgelegt. Die Aufgabe der (cis- und endogeschlechtlichen) Frau sei es, Kinder zu gebären und aufzuziehen, der (cis- und endogeschlechtliche) Mann dagegen habe die Familie zu versorgen. Als ihr Oberhaupt habe der Mann gegenüber der Frau eine übergeordnete Stellung einzunehmen. Und schließlich sei Sexualität nur dann sittlich, wenn sie der Fortpflanzung diene. 

Andere Gender-Kritiker*innen argumentieren dagegen ohne Bezug auf eine göttliche Ordnung. Für sie ist der Mensch in einen natürlichen Daseinskampf um die besten Fortpflanzungsoptionen verwickelt. Mit dieser Denkweise, die die Notwendigkeit der Fortpflanzung in den Mittelpunkt rückt, sind oft auch rassistische Ideologien verbunden, wie zum Beispiel die Vorstellung, dass eine weiße, „abendländische“ Kultur vor dem „Aussterben“ bewahrt werden müsse. 

Eine an Fortpflanzung orientierte, ausschließlich heterosexuelle Lebensweise, die patriarchalischen Rollenbildern entspricht, ist für beide Ausrichtungen des Anti-Genderismus das Fundament der Gesellschaft. Da Geschlecht als etwas gesehen wird, das binär sei und durch den Menschen auch nicht verändert werden dürfe, werden auch inter* und trans* Menschen im Anti-Genderismus abgewertet. Wer sich dafür einsetzt, dass Gleichberechtigung im Sinne des Grundgesetzes verwirklicht wird und Menschen sich geschlechtlich und sexuell möglichst frei entfalten können, verstößt aus ihrer Perspektive gegen die gott- beziehungsweise naturgegebene Ordnung.

Diffamierung von Sexualpädagogik

Anti-Gender-Initiativen arbeiten mit diffamierenden Verzerrungen. Auf diese Weise wird das Bild einer Gender-Verschwörung heraufbeschworen, die eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstelle. 

Mit besonders überzeichneten Bildern arbeiten Gender-Kritiker*innen beim Thema queere Bildungsarbeit. 

Am wissenschaftlichen Erkenntnisstand orientierte sexualpädagogische Ansätze, die Transgeschlechtlichkeit und Intergeschlechtlichkeit auf eine nicht stigmatisierende Art altersgerecht sichtbar machen und Homo-, Bi- und Heterosexualität als gleichwertige sexuelle Orientierungen thematisieren, leisten einen wichtigen Beitrag gegen Diskriminierung

Bei Anti-Gender-Initiativen wie dem Aktionsbündnis „Demo für alle“4 läuten dagegen die Alarmglocken: Queere Bildungsarbeit sei „Umerziehung“ und „Frühsexualisierung“. Sie behaupten, dass die Thematisierung sexueller Vielfalt Kinder und Jugendliche in ihrem moralischen Empfinden verletze. Durch den politischen Druck einer von ihnen so bezeichneten „Homolobby“5 würden junge Menschen dazu gezwungen, Lebensweisen als gleichwertig zu akzeptieren, die nicht gleichwertig seien. Dass queere sexualpädagogische Ansätze häufig zudem von den Gender-Kritiker*innen in die Nähe von Pädophilie beziehungsweise sexueller Gewalt an Kindern gerückt werden, dient dazu, sie im Hinblick auf die öffentliche Meinungsbildung zu diffamieren.

Familie: Mehr als Vater, Mutter, Kind

Eine an Geschlechtergerechtigkeit orientierte Politik, als „Gender-Ideologie“ tituliert, ist aus Sicht ihrer Kritiker*innen eine große Bedrohung für die „traditionelle“ Familie, die aus einem heterosexuellen, cisgeschlechtlichen und verheirateten Paar mit leiblichen Kindern bestehen solle. Durch die Anerkennung und Gleichstellung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt würden die Begriffe „Ehe“ und „Familie“ entleert und so die Grundfesten des gesellschaftlichen Zusammenlebens erschüttert. 

Mit seinem Festhalten an der „traditionellen Familie“ als einzig gültiger Lebensform negiert der Anti-Genderismus, dass andere Familienformen – wie zum Beispiel alleinerziehende Eltern mit Kindern – schon immer Teil der gesellschaftlichen Realität gewesen sind. Zudem hat sich das gesellschaftliche Verständnis von Familie und Ehe mittlerweile gewandelt. Die Ehe wurde 2017 auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet, und Familienpolitik adressiert längst nicht mehr Mütter und Väter allein in ihrer traditionellen Geschlechterrolle, sondern setzt sich für deren Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen ein. Sie stellt Fürsorge innerhalb von Familien in den Vordergrund und denkt dabei auch das Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes mit. 

Es ist eine demokratische Errungenschaft, dass Familie heute auch ganz offiziell mehr sein kann als ein heterosexuell, cisgeschlechtliches und verheiratetes Paar mit leiblichen Kindern – auch wenn die vollständige Gleichstellung noch immer nicht erreicht ist. Anti-Gender-Initiativen wollen dagegen zurück zur traditionellen Familie als einzig gültigem Lebensmodell.

Wer steckt hinter dem Kampf gegen Gender?

Hinter den Anti-Gender-Initiativen steht eine politische Allianz aus Gruppierungen, zwischen denen es große Unterschiede, aber auch Überschneidungen gibt. Sie sind global vernetzt und zielen darauf ab, ihren politischen Einfluss auszubauen. So ist der Anti-Genderismus ein ideologisches Bindeglied zwischen christlich-fundamentalistischen Akteur*innen6,7, Initiativen und Parteien aus dem völkischen, rechtspopulistischen und rechtskonservativen Spektrum sowie antifeministischen Männerrechtsaktivisten.8 
Der Anti-Genderismus wird von diesen Allianzen strategisch dazu genutzt, Anhänger*innen zu mobilisieren, die von sichtbarer gesellschaftlicher Vielfalt verunsichert sind und an hierarchischen Konzepten von Geschlecht, Geschlechterrollen und Sexualität festhalten möchten. Er ist damit eine Reaktion auf die politischen Errungenschaften von feministischen und LSBTIQ*-Bewegungen, die sich bis heute dafür einsetzen, dass vielfältige Lebensentwürfe jenseits von Heterosexualität, Zweigeschlechtlichkeit und patriarchaler Machtverteilung kulturell sichtbar und rechtlich ermöglicht werden. Der Widerstand dagegen ist nicht neu, wie die Geschlechterforscher*innen Paula Villa und Sabine Hark schreiben: 

„Denn die Ansicht, Feminist*innen, Queers und andere trieben es zu weit mit ihrer Infragestellung der vermeintlich natürlichen Ordnung der Dinge, ist so alt wie diese Ordnung selbst.“9

Neu am heutigen Anti-Genderismus ist aber der Fokus auf „Gender“. Ein abstraktes Konzept in den Mittelpunkt der Kritik zu stellen, soll signalisieren, dass sich die Anti-Gender-Initiativen gegen – in ihren Augen – ideologisierte Formen von Wissenschaft richten, deren Erkenntnisse dem Volk durch eine sogenannte „Homolobby“, den Staat und die Europäische Union aufgezwungen würden. Auf diese Weise wird verschleiert, dass es ihnen um die Durchsetzung eigener geschlechterpolitischer Vorstellungen geht. Das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung und die Anerkennung von LSBTIQ* wird dadurch auf eine Weise in Frage gestellt, die mit einer pluralen und offenen Gesellschaft nicht vereinbar ist. 

1 Dudenredaktion (o. J.): "Gender". In: Duden online. Zuletzt abgerufen am 22.09.2020 von www.duden.de/rechtschreibung/Gender.

2 Criado-Perez, Caroline (2020): Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. München: btb Verlag.

3 O. A. (2020): "Natürliche Geschlechterordnung". In: Diskursatlas Antifeminismus. Zuletzt abgerufen am 04.10.2020 von www.diskursatlas.de/index.php.

4 O. A. (2020): "Demo für alle". In: Diskursatlas Antifeminismus. Zuletzt abgerufen am 04.10.2020 von www.diskursatlas.de/index.php.

5 O. A. (2020): "Homolobby". In: Diskursatlas Antifeminismus. Zuletzt abgerufen am 04.10.2020 von http://www.diskursatlas.de/index.php?title=Demo_für_alle.http://www.diskursatlas.de/index.php?title=Homolobby.

6 Leimgruber, Ute (2020): "Hostility toward Gender in Catholic and Political Right-Wing Movements". In: Religions. 2020, 11/6, 301.

7 Thiessen, Barbara (2015): "Gender Trouble evangelisch. Analyse und Standortbestimmungen". In: Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hrsg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld: transcript. S. 149-166. 

8 Claus, Robert (2014): Maskulismus. Antifeminismus zwischen vermeintlicher Salonfähigkeit und unverhohlenem Frauenhass, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

9 Villa, Paula-Irene/Hark, Sabine (2017): "'Gender-Wahn Stoppen' (AfD). Wer sich wie und warum gegen die Kontingenz von Sexualität und Geschlecht artikuliert". In: Stephan Lessenich (Hrsg.): Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016.

Autorin: Kathrin Ganz

Kurzbiografie: Kathrin Ganz ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen von Digitalisierung und Gesellschaft. Zu ihren Interessenschwerpunkten gehören unter anderem Intersektionalität, Netzpolitik, Open Access und Anti-Genderismus/Anti-Feminismus. Zuletzt war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Margherita-von-Brentano-Zentrum für Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin tätig.

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