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Geschlechterübergreifend lieben in einer monosexuellen Gesellschaft

Vermutlich gibt es genauso viele Menschen mit einer bisexuellen Orientierung wie solche, die gleichgeschlechtlich lieben und begehren. Warum ist Bisexualität als eine gleichberechtigte und alltägliche sexuelle Orientierung dennoch oft unsichtbar?

Bisexualität ist ein möglicher Name für sehr unterschiedliche Formen der geschlechterübergreifenden Lust und Liebe. Sie ist genauso vielfältig wie andere Varianten der Gestaltung von Sexualität oder Beziehung. Den wenigen verfügbaren Daten nach gibt es genauso viele Menschen, die sich sexuell dauerhaft zu Männern und Frauen hingezogen fühlen, wie solche, die gleichgeschlechtlich orientiert sind.1

Viele Bisexuelle berichten jedoch, dass ihnen das Wissen über Bisexualität als eine eigenständige sexuelle Orientierung lange gefehlt habe: „In meiner Jugend hatte ich kein Wort für das, was ich eigentlich bin“, erzählt ein bisexueller Mann in einem Interview.2 Bisexualität ist als eine alltägliche, gleichberechtigte und selbstverständliche sexuelle Orientierung oft unsichtbar. Doch wieso ist das so? Um diese Frage zu beantworten, ist ein Blick in die Geschichte hilfreich.

Bisexualität in der frühen Sexualwissenschaft

Anfang des 20. Jahrhunderts spielte Bisexualität im westeuropäischen Raum eine wichtige Rolle für das wissenschaftliche Verständnis davon, wie sich menschliche Sexualität entwickelt. Die sexuelle Entwicklung, so eine verbreitete Annahme, sei eine Art Reise, die in der Bisexualität ihren Anfang nehme. Diese Ansicht findet sich in unterschiedlichen Disziplinen wie der Sexualwissenschaft und der Psychoanalyse, aber auch in frühen Streitschriften für eine Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Liebe.3

Als Ziel für jeden Menschen wurde festgelegt, sich sexuell dauerhaft auf ein Geschlecht festzulegen, um eine „erwachsene Sexualität“ zu erlangen.4 Dieses Denken kann als monosexuelle Norm bezeichnet werden. Homosexualität galt in diesem Modell sexueller Entwicklung keineswegs als eine gleichberechtigte Wahlmöglichkeit. Ihre Existenz stand jedoch außer Zweifel. 

Weitere Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Unsichtbarkeit bietet ein Blick auf den Umgang mit Bisexualität in den LSBTIQ*-Bewegungen der letzten Jahrzehnte.

Bisexualität in LSBTIQ*-Bewegungen 

Bisexuelle waren von Anfang an Teil der unterschiedlichen LSBTIQ*-Bewegungen der letzten 100 Jahre, aber erst seit den 1980er-Jahren hat sich eine eigenständige und sichtbare politische Selbstorganisation Bisexueller in Deutschland herausgebildet. Diese neue Sichtbarkeit war und ist ungemein bestärkend für viele bisexuelle Menschen.

So erzählt eine bisexuelle Frau in einem Interview ganz begeistert, wie sie auf einer Demonstration anlässlich des Christopher Street Days das erste Mal in ihrem Leben eine Gruppe von Bisexuellen entdeckte: „Wir haben uns zuerst die Parade angeschaut und da habe ich diese Bi-Gruppe gesehen und war wirklich völlig hin und weg.“5

Jenseits der Bemühungen bisexueller Selbstorganisation blieb die Sichtbarkeit von Bisexualität als einer gleichberechtigten sexuellen Orientierung in homosexuellen (lesbischen und schwulen) Emanzipationsbewegungen jedoch häufig begrenzt. Die monosexuelle Norm, die verlangt, sich in Lieben, Begehren und Zusammenleben auf ein Geschlecht zu beschränken, sieht für Bisexuelle keinen Platz vor.6

Der zunehmende queere Aktivismus seit den 1990er-Jahren führte zu keiner grundlegenden Verbesserung der begrenzten Sichtbarkeit von Bisexualität. Obwohl die Kritik an der ausgrenzenden Einteilung von Menschen in Kategorien ganz oben auf der Agenda stand, wurde Bisexualität als sexuelle Orientierung häufig ignoriert. Sie galt manchen als eine überkommene sexuelle Orientierung, da schon der Begriff auf jenes zweigeschlechtliche Denken verweise, das überwunden werden sollte.7

Eine szeneübergreifende oder gar gesamtgesellschaftliche Sichtbarkeit von Bisexualität konnte sich unter diesen Bedingungen nicht herausbilden. Dieser ernüchternde Blick auf den Status von Bisexualität in homosexuellen und queeren Bewegungen der Vergangenheit wirft die Frage auf, wie es in der Gegenwart um ihre Sichtbarkeit und die Lebenssituation von Bisexuellen bestellt ist.

Herausforderungen für bisexuelle Menschen heute

Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass das Unsichtbarmachen von Bisexualität und die damit zusammengehörende Diskriminierung von Bisexuellen nicht der Vergangenheit angehören. Bisexuelle Menschen machen häufig die Erfahrung, dass ihre sexuelle Orientierung nicht als dauerhaft, gleichberechtigt oder voll entwickelt anerkannt wird. Übersexualisierte Darstellungen von bisexuellen Lebensweisen in Medien empfinden viele bisexuelle Menschen als diskriminierend, ebenso wie das Vorurteil, dass sie ihren Partner*innen nicht treu sein könnten.8

In einer EU-weiten repräsentativen Umfrage gaben 46 Prozent der bisexuellen Frauen und 73 Prozent der bisexuellen Männer an, ihre Orientierung in der Schulzeit verheimlicht oder verschwiegen zu haben.9 In den zwölf Monaten vor Durchführung der Befragung erlebten 47 Prozent der bisexuellen Frauen und 36 Prozent der bisexuellen Männer Diskriminierungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung (nicht-binäre Geschlechtsidentitäten wurden bei dieser Fragestellung nicht gesondert erhoben).

Die wenigen verfügbaren Daten sprechen für das Fortbestehen einer gesellschaftlichen Situation, in der die Sorge, diskriminiert zu werden, konkrete Diskriminierungserfahrungen und die fehlende Sichtbarkeit von Bisexualität sich gegenseitig verstärken.

Diskriminierung benennen: Bifeindlichkeit und monosexuelle Ordnung

Sichtbarkeit braucht ein Umfeld ohne Diskriminierung. Ein wichtiger Schritt, um ein solches Umfeld zu schaffen, wäre die klare Benennung der Diskriminierungserfahrungen von Bisexuellen. Bisexuelle haben schon lange sprachliche Mittel entwickelt, mit denen es möglich ist, die Diskriminierungserfahrungen zu beschreiben, die sie erleben.10

Negative Einstellungen gegenüber Bisexualität lassen sich mit dem Begriff der Bifeindlichkeit bezeichnen. Obwohl es den Begriff der „biphobia“ schon seit Jahrzehnten gibt und dieser in Großbritannien oder in den USA mittlerweile anerkannt und relativ weit verbreitet ist, werden in Deutschland „Biphobie“ oder „Bifeindlichkeit“ selten verwendet.

Dabei ist ein eigener Begriff wichtig, weil er es möglich macht, Diskriminierungserfahrungen zu beschreiben, die nicht alleine auf negativen Einstellungen gegenüber Homosexualität beruhen. Bisexuelle können sowohl Homofeindlichkeit als auch Bifeindlichkeit erleben.

Individuelle bifeindliche Handlungen oder Einstellungen allein erklären aber nicht die Diskriminierungserfahrungen und Unsichtbarkeit bisexueller Menschen. Dazu kommt, dass Sexualität immer noch vor allem monosexuell gedacht wird,11 sprich dass davon ausgegangen wird, Menschen sollten sich dauerhaft auf das Geschlecht der Menschen festlegen, die sie sexuell anziehend finden. 

Dieses Denken – auch als Monosexismus bezeichnet – hilft eine Ordnung aufrechtzuerhalten, in der Heterosexualität ihre selbstverständliche und allumfassende, mit vielen Vorteilen verbundene Sichtbarkeit behält. Homosexualität wird toleriert, so lange sie als eine Eigenschaft einer klar abgrenzbaren Minderheit gilt. Für eine bisexuelle Orientierung bleibt in dieser Ordnung wenig Platz.

Sichtbarkeit fördern

Wie kann die unzureichende gesellschaftliche Sichtbarkeit von Bisexualität verbessert werden? Dazu gehört eine angemessene Repräsentation von Bisexualität, ohne sie zu sexualisieren, dramatisieren oder exotisieren.

Dies könnte etwa im Zuge der Überarbeitung von Konzepten der sexuellen Bildung in der Schule geschehen. Dabei ist es wichtig, dass sexuelle Vielfalt nicht auf hetero- und homosexuelle Lebensweisen reduziert wird. Auch sollten monogame und nicht-monogame Lebensentwürfe berücksichtigt und nicht gegeneinander ausgespielt werden.

In Studien über Sexualität sollte Bisexualität als eine eigenständige Kategorie sexueller Orientierung erhoben werden.

Es ist wichtig, die besonderen Diskriminierungserfahrungen Bisexueller anzuerkennen, wie sie etwa mit dem Begriff der Bifeindlichkeit beschrieben werden. Im Zuge der Durchsetzung der nötigen Antidiskriminierungsmaßnahmen sollten – unter Einbeziehung der bisexuellen Community – konkrete Maßnahmen gegen Bifeindlichkeit entwickelt werden.

Eine klare Haltung gegen die Diskriminierung von Bisexuellen in der Schule, im Betrieb und im Alltag würde eine bessere Sichtbarkeit von Bisexualität ermöglichen. In einem Umfeld ohne Angst besteht keine Notwendigkeit mehr, über die eigene Bisexualität zu schweigen.

Und es ist notwendig, ein Verständnis von Sexualität zu entwickeln, das Platz lässt für weniger gradlinige Entwicklungen und für Uneindeutigkeiten. So wird es möglich, die sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Gesundheit aller Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und Sexualität als etwas zu betrachten, das vieldimensional ist, kreativ gestaltet werden und sich im Laufe des Lebens verändern kann.

Bode, Heidrun/Heßling, Angelika (2015): Jugendsexualität 2015. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Wiederholungsbefragung. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. S. 8, 118 und Dekker, Arne/Matthiesen, Silja (2015): "Gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen von Studierenden in vier Generationen". In: Forum – Informationsdienst der Zentrale für gesundheitliche Aufklärung. 2015, 1, S. 33.

Ritter, Kim (2014): "'Dieses Gefühl irgendwie so'n Zuhause gefunden zu haben': biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung". In: Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hrsg.): Forschung im Queerformat. Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung. Bielefeld: transcript Verlag. S. 199-214.

Ellis, Havelock/Symonds, John (1887): Sexual Inversion. London: Wilson and MacMillan. S. 132; Krafft-Ebing, Richard (1898): Psychopathia Sexualis. Mit der besonderen Berücksichtigung der Conträren Sexualempfindung. Stuttgart: Ferdinand Enke. S. 220; Freud, Sigmund (1977): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und verwandte Schriften. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. S. 22; Ulrichs, Karl Heinrich (1868): Memnon. Die Geschlechtsnatur des mannliebenden Urnings. Schleiz: C.Hübscher. S. 17.

4 Freud, Sigmund (1977): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und verwandte Schriften. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. S. 22.

5 Ritter, Kim (2014): "'Dieses Gefühl irgendwie so'n Zuhause gefunden zu haben': biografische Konstruktionen von Bisexualität im Kontext monosexueller Ordnung". In: Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hrsg.): Forschung im Queerformat. Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung. Bielefeld: transcript Verlag. S. 199-214.

6 Roberts, Tangle/Horne Sharon G./Hoyt, William T. (2015): "Between a Gay and a Straight Place. Bisexual Individuals' Experiences with Monosexism". In: Journal of Bisexuality. 2015, 15/4, S. 554-569.

Monro, Surya (2015): Bisexuality. Identities, Politics, and Theories. Basingstoke: Palgrave Macmillan. S. 44.

Frohn, Dominic/Meinhold, Florian (2016): "Spezifika der Arbeitssituation von bisexuellen Beschäftigten in
Deutschland auf Grundlage von qualitativen Interviews mit bisexuellen (Alltags-)Experten_innen." Köln: Institut für Diversity- und Antidiskriminierungsforschung. Zuletzt abgerufen am 14.05.2019 von https://www.diversity-institut.info/downloads/IDA_Ergebnisbericht_Qual-Teilprojekt_Bisexuelle-Beschaeftigte_170517_DF.pdf.

Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2013): LGBT-Erhebung in der EU. Erhebung unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der Europäischen Union. Ergebnisse auf einen Blick. Luxemburg: Publication Office of the European Union. S. 21.

10 Ochs, Robyn (1996): "Biphobia. It Goes More Than Two Ways". In: Firestein, Beth A. (Hrsg.): Bisexuality. The psychology and politics of an invisible minority. Thousand Oaks: Sage Publications. S. 217-239.

11 Yoshino, Kenji (2001): "The Epistemic Contract of Bisexual Erasure". In: Stanford Law Review. 2001, 52/2, S. 353-461.


Autorin: Kim Ritter

Kurzbiografie: Kim Ritter ist Doktorandin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin. Sie promoviert zum Thema „Jenseits der Monosexualität? Biografische Konstruktionen von Bisexualität“. Im Anschluss an ihr Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Geschlechterforschung an der Universität Göttingen war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-geförderten Projekt „Die soziale Ordnung des Sexuellen“ tätig und arbeitet gegenwärtig als Dozentin im Bereich Gender und Diversity.