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Die medizinische Leitlinie „Varianten der Geschlechtsentwicklung“

Die aktuelle medizinische Leitlinie „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ sammelt Erkenntnisse, Empfehlungen und Praxishilfen für Ärzt*innen, die intergeschlechtliche Menschen behandeln. Was empfiehlt diese Leitlinie und welche Hilfestellungen liefert sie auch für Inter* selbst und deren Eltern?

Die „Leitlinien“ der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzt*innen zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin. Ihre Gültigkeit wird auf fünf Jahre begrenzt.

Die seit 2016 gültige Leitlinie zu Intergeschlechtlichkeit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“1 ist eine sogenannte AWMF-S2k-Leitlinie. Sie ist durch eine „formale Konsensfindung“ zwischen Ärzteschaft und den beteiligten Patientenorganisationen zustande gekommen (daher das „k“) und steht eine Stufe höher als eine einfache „Expertenmeinung“ (S1). Im vierstufigen Leitlinien-Verfahren steht die S2k-Leitlinie auf der zweiten Stufe.

Wie wurde und wird in der Medizin über Inter* gesprochen?

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der wissenschaftliche Sprachgebrauch zu Intergeschlechtlichkeit stark verändert. Traditionelle Begriffe wie „Zwitter“, „Hermaphroditismus“, „Zwischengeschlecht“, „Intergeschlechtlichkeit“ oder „Intersexualität“ wurden im englischen Sprachraum durch den BegriffDisorders of Sex Development“ (DSD)  ersetzt. In den früheren medizinischen Leitlinien wurde dieser Begriff als "Störung der Geschlechtsentwicklung" ins Deutsche übernommen.

Der Begriff „disorder“ wurde heftig angegriffen; inter* Menschen äußerten sich empört, dass (ihre) Intergeschlechtlichkeit unter „Störung“ und „Krankheit“ eingeordnet werde. Während die Bezeichnungen „Intersexualität“ undIntergeschlechtlichkeit“ in den Leitlinien und im medizinischen Sprachgebrauch abgelehnt werden, haben sich diese Begriffe im alltäglichen Sprachgebrauch in Deutschland sowie international praktisch durchgesetzt. Mit ihnen wird neben biologischen Besonderheiten auch die soziokulturelle Situation, die die eindeutige Zuordnung als Mann oder Frau nicht erlauben, bezeichnet.

Und warum ist das wichtig? 

In traditionellen Vorstellungen – die auch heutzutage noch sehr präsent sind – werden Körper, die von der weiblichen oder männlichen Norm abweichen, für krank erklärt. Diese Vorstellung liefert dann oft die argumentative Grundlage für sogenannte „normalisierende“ Operationen, bei denen inter* Menschen operativ einem Geschlecht „angepasst“ beziehungsweise zugeordnet werden. Diese Operationen werden aufgrund der traumatisierenden Effekte auf Betroffene von der Bundesärztekammer (BÄK) stark kritisiert.

Die BÄK vertrat lange Zeit eine solche traditionelle Vorstellung. Im Jahr 2015 betonte die BÄK in einer wegweisenden Stellungnahme2 das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, das unvereinbar mit medizinisch nicht notwendigen Operationen sei.

Basierend auf den Grundannahmen dieser Stellungnahme wurden medizinische Fachgesellschaften angeregt, die S2k-Leitlinie „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ zu entwickeln. Dabei arbeiteten die verschiedenen Fachgesellschaften mit den folgenden drei Interessenvertretungen zusammen: Intersexuelle Menschen e.V. (2021 umbenannt in „Intergeschlechtliche Menschen e.V.“), AGS-Eltern- und Patienteninitiative e.V. sowie die Selbsthilfegruppe XY-Frauen.3 Der Begriff „Variante“ wurde von der BÄK eingeführt und in den Leitlinien verwendet (abgeleitet von lat. „varius“: mannigfaltig). Gemeint ist eine Geschlechterdiversität. Verbände kritisieren den Begriff „Variante“, da er eine negative Abweichung von einer Norm bezeichne, und verwenden stattdessen den Begriff „Variation“, der Unterschiede zwischen Individuen bezeichne, ohne dabei eine Wertung zu beinhalten.

Wer nicht krank ist, muss nicht behandelt werden

In der Leitlinie wird die Bezeichnung „Varianten der geschlechtlichen Entwicklung“ verwendet. Damit positioniert sich die Leitlinie gegen die Vorstellung, Intergeschlechtlichkeit sei eine medizinisch definierte, körperliche Störung oder Krankheit. In der Leitlinie wird festgestellt, dass es nicht mehr nur um den körperlichen Befund geht. Es werden zwei neue Begriffe eingeführt, die über das Körperliche hinausgehen: erstens die „Geschlechtsidentität“ und zweitens die „Selbstbestimmung“.

Die Wortwahl „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ ist direkt verknüpft mit einer Absage an medizinisch nicht notwendige chirurgische Eingriffe: „Da es Menschen gibt, die keine Behandlung benötigen oder wünschen und es sich somit in einem solchen Fall um keine Erkrankung mit Behandlungsnotwendigkeit handelt, erscheint uns der Begriff ‚Variante‘ am zutreffendsten.“4

Dies bedeutet nichts weniger als einen Paradigmenwechsel, bei dem die geschlechtliche Selbstbestimmung der Betroffenen an vorderste Stelle gerückt wird. Weder die Ärzt*innen sollen entscheiden noch die Eltern nach Beratung der Ärzt*innen: jegliche therapeutische Entscheidung soll von der betroffenen Person selbst getroffen werden.

Konkrete Hilfestellungen für Eltern und Betroffene

Anders als in früheren Leitlinien werden in der Leitlinie nicht nur die behandelnden Ärzt*innen angesprochen. Sie richtet sich auch an die Eltern intergeschlechtlicher Kinder – mit dem Ziel, die bestmögliche seelische und körperliche Entwicklung für das Kind zu erreichen. In der Leitlinie sind 34 Empfehlungen für Eltern und behandelnde Ärzt*innen mit ergänzenden Erklärungen aufgelistet.

Die Empfehlungen berücksichtigen, dass Eltern von der Geburt ihres inter* Kindes an mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert sind. Wird bei einem Neugeborenen eine Variante der geschlechtlichen Entwicklung vermutet, rät die Leitlinie zu einer kompetenten psychologischen Begleitung der Familie durch mit der Thematik vertraute Personen.

Wird die Vermutung bestätigt, rät die Leitlinie zusätzlich zur Beratung durch eine qualifizierte Peer-Beratung und Selbsthilfegruppen. Da sich die Aufklärung in einem längeren Prozess entwickelt, sollte ein*e informierte*r Psycholog*in hinzugezogen werden und vorher keine weiteren therapeutischen (oder medizinischen) Entscheidungen getroffen werden.

Weiter wird betont, dass Eltern und Kinder zuverlässig, verständlich und kontinuierlich über aktuelle Befunde zu informieren sind und dass Eltern ihren Kindern die Entscheidungen über operative Eingriffe nur in Notfallsituationen abnehmen können.

Leitlinien sind rechtlich nicht bindend

Fachgesellschaften können kein verbindliches Recht für Ärzt*innen erlassen. Das können nur die jeweiligen Ärztekammern der Bundesländer. Dies bedeutet, dass es sich bei Leitlinien um unverbindliche, rechtlich nicht bindende Empfehlungen handelt. Medizinische Behandlungen können jederzeit unter Begründung der behandelnden Personen von den in der Leitlinie aufgeführten Empfehlungen abweichen, ohne dass dies Sanktionen nach sich ziehen würde.

Eine Möglichkeit, rechtliche Verbindlichkeit zu schaffen, läge in der Schaffung sogenannter „Richtlinien“. Diese können von Ärztekammern angeordnet werden und basieren auf einer gesetzlichen Grundlage. Es gibt jedoch Grenzfälle und Überschneidungen von medizinischen und kosmetischen Operationen, in welchen die Entscheidung für oder gegen eine Operation individuell abgewogen werden muss. Daher haben die Ärztekammern bisher davon abgesehen, eine Richtlinie zu beschließen.

Warum ist die Leitlinie trotzdem ein wichtiger Schritt?

In der Leitlinie spielen Empathie und Akzeptanz eine große Rolle. Es wird großer Wert auf die Entwicklung einer optimalen Eltern-Kind-Beziehung gelegt. Das Recht des Kindes zur Mitentscheidung bei möglichen therapeutischen Maßnahmen wird betont. Mit den Empfehlungen soll die körperliche Unversehrtheit – unter Beachtung der Sexualität und der maximal möglichen Persönlichkeitsentwicklung und Selbstbestimmung – bewahrt werden.

Der entscheidende Punkt ist, dass medizinisch nicht notwendige medikamentöse und chirurgische Eingriffe abgelehnt werden. Damit gibt die Leitlinie Betroffenen, Eltern und Ärzt*innen in ihrer Entscheidung gegen solche Eingriffe ein wichtiges Argumentationswerkzeug in die Hand.

Aktuelle Entwicklungen (Stand: 09.05.2023)

Zum 31.12.2023 ist die Veröffentlichung der überarbeiteten medizinischen Leitlinie mit dem Titel „Varianten der Geschlechtsdifferenzierung“ geplant.5 Zudem trat am 22.05.2021 das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ in Kraft, welches Kinder vor geschlechtsangleichenden operativen Eingriffen schützt. Weitere Informationen finden Sie in dem Artikel „Inter* - was?“.  

Deutsche Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (Hrsg.) (2016): S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung. Zuletzt abgerufen am 07.03.2023 von www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01_1_.pdf.

Bundesärztekammer (2015): „Stellungnahme der Bundesärztekammer ‚Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD)‘“. In: bundesaerztekammer.de, 30.01.2015. Zuletzt abgerufen am 07.03.2023  von https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/Stellungnahmen/BAeK-Stn_DSD.pdf.

3 Deutsche Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (Hrsg.) (2016): S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung; S. 1. Zuletzt abgerufen am 07.03.2023 von https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01_1_.pdf.

4 Deutsche Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (Hrsg.) (2016): S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung; S. 5. Zuletzt abgerufen am 07.03.2023 von https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01_1_.pdf.

5 AWMF online (o. A.): „Leitlinien-Details“. In: https://register.awmf.org/de/. Zuletzt abgerufen am 09.05.2023 von https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-014.

Weiterführende Informationen:

Groß, Nele Marie (2022): Medizinische Versorgung von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Zuletzt abgerufen am 14.03.2023 von https://www.zhb.uni-luebeck.de/epubs/ediss2817.pdf.

Schweizer, Katinka (2020): „Psychosoziale Versorgung bei Intersex/Varianten der Geschlechtsentwicklung. Leitlinienorientierte Beratung und Psychotherapie“. In: Gynäkologische Endokrinologie, 19. In: https://link.springer.com/. Zuletzt abgerufen am 14.03.2023 von https://link.springer.com/article/10.1007/s10304-020-00361-8?wt_mc=Internal.Event.1.SEM.ArticleAuthorOnlineFirst&utm_source=ArticleAuthorOnlineFirst&utm_medium=email&utm_content=AA_en_06082018&ArticleAuthorOnlineFirst_20201224.


Autor: Dr. Jörg Woweries

Kurzbiografie: Dr. Jörg Woweries war 25 Jahre lang als Arzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und Lehrbeauftragter am Krankenhaus Berlin-Neukölln tätig und hauptsächlich mit der Betreuung von Neugeborenen beschäftigt. Im Zuge dieser Arbeit begegnete er bei Erstuntersuchungen Neugeborenen, deren Genitale nicht der medizinischen „Norm“ entsprachen. Er setzte sich mit der gängigen Herangehensweise von Ärzt*innen auseinander und zeigte in mehreren Arbeiten wünschenswerte Alternativen der Betreuung von Eltern und ihren Kindern auf. Er widmet sich auch dem Personenstandsgesetz und zeigt die Grenzen dieses Gesetzes auf, um durch Ergänzungen beziehungsweise Streichungen einen größeren rechtlichen Freiraum zwischen den Geschlechtseinträgen „Mann“ und „Frau“ zu schaffen. Für seinen Einsatz für intergeschlechtliche Themen erhielt er 2019 das Bundesverdienstkreuz.

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